#029

Text:
Florian Hämmerle

Die Sehnsucht nach dem Echten
Storytelling zwischen Identität und Inszenierung

Ein junger Mann sitzt in der Straßenbahn. Er starrt auf sein Smartphone, auf dem seine Finger ein regelrechtes Stakkato aufführen. Sein Gesichtsausdruck verliert sich irgendwo zwischen Langeweile und Apathie. Swipe, swipe, Like, Like, Swipe. Wieder ein Stakkato.

Plötzlich reißt er den Arm nach oben, sein Smartphone zielt auf seine Person, die nun zur Leinwand, ja zum regelrechten Kunstwerk wird: Er macht ein paar coole Bewegungen mit seinen Händen, grinst und zwinkert. Für einen kurzen Moment wirkt er glücklich, vielleicht sogar sympathisch. Dann sinkt der Arm wieder – sein dreisekündiges Fake zerfällt in Apathie.

In der gemeinsamen Fahrt, die übrigens nur 4 Stationen dauert,
wiederholt sich diese Prozedur exakt 7 mal.

Luca nenne ich den jungen Mann, der sich und der Welt alle paar Sekunden beweisen muss, dass er existiert. Er ist dabei so mit seinem virtuellen Ich beschäftigt, dass er gar nicht registriert, wie ich ihn in der realen Welt beobachte. Emojis – Abziehbilder vermeintlicher Emotion – machen seine Worte überflüssig. Seine „Freunde“ sind über die Welt verstreut, teilen seine Interessen und zum Glück auch seine Meinung. Ansonsten weiß er über sie vermutlich nichts.

Nachrichten werden nicht wirklich gelesen, Bilder kaum betrachtet. Es scheint allein zu zählen, von wem eine Botschaft stammt – und weniger, was sie ihm sagen will. Luca quittiert sie mit einem Herz, einem Daumen oder dem gelegentlichen „lol“, das übrigens genau so klingt, wie man es liest. Das geschieht sofort und unmittelbar, um möglichst schnell wieder von sich selbst sprechen zu können.

Ich habe längst aufgegeben, die sogenannte Selfie-Kultur verstehen zu wollen. Ich – in der Straßenbahn. Ich – im Fitness-Center. Ich – vor dem Eiffelturm. Die eigentliche Erzählung mimt nur noch den Hintergrund.

Was zählt, ist nicht, was erzählt wird, sondern wer gerade erzählt.
Der Shift vom eigentlichen Narrativ zum Helden der Geschichte.
Als Schnappschuss, als Inszenierung und als Fake einer Emotion,
die nur für dieses kurze Abbild existieren darf.

Das Erleben wird Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung. Reduziert auf einen stilistischen Kompromiss, auf den sich die Social Media-Gesellschaft gerade noch irgendwie einigen kann.

„Story“ nennt sich das. Ahja.

Unsere Geschichten waren noch nie so langweilig, wie heute.

Dabei sehnen wir uns doch alle nach dem Echten. Nach dem, was uns wirklich lebendig – und also glücklich – macht. Und gerade heute erscheint mir das Echte wertvoller denn je: Fake News sind kaum noch von Wahrheiten zu unterscheiden, wir lassen uns von Algorithmen unsere Meinung zementieren, einige fälschen ihr Antlitz mit KI. In einer Welt, in der die Fälschung immer mehr an Relevanz gewinnt, wird doch das Echte zum eigentlich Besonderen.

Oder etwa nicht?

Für mich ergibt sich aus dieser Beobachtung eine Vielzahl an Fragen. Etwa: Wenn das, was wir in unserem Social Media Alltag als „Story“ bezeichnen, in Wahrheit keine ist – was ist eine Story dann eigentlich? Und: Wie kann Storytelling dabei helfen, mit dem Echten aus dem Immer-Gleichen hervorzustechen – etwa im Kontext des Personal Branding?

Die Antworten sind – wie so oft – nicht ganz einfach. Es folgt eine Annäherung aus mehreren Perspektiven: der Rolle von Geschichten für unsere Identität, ihrer biochemischen Wirkung auf Psyche und Körper, dem Konflikt, ohne den eine Geschichte nicht viel mehr scheint als eine bloße Nacherzählung – und der für Marken so wesentlichen und manchmal vielleicht sogar schmerzhaften Frage nach ihrer eigentlichen Relevanz.

Storytelling aus psychologischer Sicht
Oder: Der Homo Narrans

Wir Menschen sind erzählende Wesen und gar nicht so nüchtern, wie der Begriff „Homo sapiens“ vermuten lässt. Denn wir denken, empfinden und erinnern in Geschichten. Was uns widerfährt – das eigentlich chaotische, wenn auch banale Leben – wird in unserem Inneren geordnet, kuratiert, zurechtgerückt. Rückblickend erkennen wir Kausalitäten, die wir im Jetzt, in diesem Moment, unmöglich begreifen. Das Erzählen macht das Erlebte greifbar und gibt dem Zufall eine logische Struktur aus Ursache und Wirkung. Das Erzählen erschafft Sinn.

Das relativ junge Feld der narrativen Psychologie geht davon aus, dass wir unser Leben – und damit unsere Identität – mit Hilfe von Geschichten strukturieren. Was geschehen ist, wird nicht einfach nur erinnert – es wird erzählt. Und mit jeder Erzählung ein klein wenig anders geformt.

Denn Erinnern ist kein Abrufen nüchterner Daten aus einem klar strukturierten Archiv, sondern immer auch ein kreativer Akt. Wir erzählen Vergangenes im Licht der Gegenwart – und ordnen das Erlebte damit immer wieder neu, je nach Absicht oder Kontext.

Unsere Narrative verändern sich also. Und damit unser Selbstbild, unsere Identität.

Das ist nicht nur ein interessanter philosophischer Standpunkt, sondern eröffnet in der Psychologie eigene therapeutische Ansätze: Denn was uns tief verunsichert, beschämt oder innerlich klein macht, ist weniger ein Ereignis selbst als die Geschichte, die wir uns darüber erzählen. Selbstverurteilung, Schuldnarrative und die ständige Wiederholung eigener Schwächen – all das kann sich durch gezielte Eingriffe in das eigene Narrativ verändern. Manchmal reicht dazu ein einfacher Perspektivenwechsel.

Die Geschichten, die wir über uns erzählen, definieren also, wer wir sind.
Für uns selbst. Aber auch für die, die uns zuhören.

Doch gute Geschichten berühren nicht nur psychisch, sie wirken auch körperlich. Ganz so, als würden wir das Erzählte gerade tatsächlich erleben.

Storytelling aus biochemischer Sicht
Oder: The Moral Molecule

Paul Zak, Neuroökonom und Storytelling-Forscher, hat die biochemische Wirkung von Geschichten genauer untersucht und festgestellt, dass sie in unserem Gehirn zwei zentrale Botenstoffe aktivieren: Cortisol, das unsere Aufmerksamkeit schärft – und Oxytocin, das Nähe, Vertrauen und Empathie fördert. Zak nennt Oxytocin deshalb auch The Moral Molecule – weil es sogar unser Verhalten beeinflussen kann.

In Studien stellt er fest: Wer mitfühlt, hilft eher. Aus passivem Zuhören wird aktives Handeln.

Kein Wunder also, dass Storytelling das Buzzword der heutigen Zeit ist – über unzählige Branchen hinweg.

Immerhin ist es ein zentrales Anliegen hinter jeder Form von Kommunikation, einerseits Aufmerksamkeit für eine Botschaft zu schaffen und im Idealfall auch gleich das Vertrauen zu erwecken, dass diese Botschaft durchaus ernst gemeint ist.

Im sogenannten Brand Storytelling geht es freilich nicht ums Erzählen an sich, sondern um die gezielte Wirkung eines Narrativs. Etwa einen Gedanken zu platzieren, Emotionen zu wecken. Oder um das Auslösen einer Reaktion – im besten Fall: einer Handlung.

Damit eine Geschichte aber diese Wirkung entfalten kann, muss sie mehr sein, als bloße Aufzählung. Sie braucht auch mehr als nur ein Happy End. Stattdessen braucht sie eine zentrale Herausforderung, ein Problem. Und Zeit für Reibung und Tiefe. Ohne Konflikt, der uns fesselt, sind unsere Stories völlig wirkungslos, so Paul Zak.

In meinen Vorträgen gehe ich sogar noch einen Schritt weiter – ich behaupte: Eine Erzählung wird erst durch den Konflikt zur echten Story.

Storytelling aus dramaturgischer Sicht
Oder: Wer nie Angst hat, ist auch nicht mutig.

Dramatische Erzählbögen, wie etwa Gustav Freytags Drama oder Kurt Vonneguts satirisches Man in a Hole, liefern nicht nur eine gute Blaupause für den Aufbau eines solchen Konflikts, sondern auch die Möglichkeit, Haltung und Charakter des Handelnden zwischen den Zeilen mitzukommunizieren.

Denn mit Hilfe klassischer Dramaturgie – bestehend aus einem einordnenden Exposé, einem schicksalhaften Wendepunkt, einer drohenden Niederlage, der erstarkten Wiedergeburt des Helden, bis hin zum hoffentlich glücklichen Ende – wird weit mehr erzählt als das Offensichtliche:

Wir erfahren nicht nur, was passiert – sondern eben auch, wie jemand auf Herausforderungen reagiert.

Gerade diese impliziten Informationen – über Resilienz, Haltung, Denkweisen – bleiben hängen, weil sie nicht erklärt, sondern durch gutes Storytelling erlebbar werden.

Durch den Konflikt wird die handelnde Figur für uns greifbar. Wir können uns mit ihrem Charakter, vielleicht sogar mit ihren Handlungsweisen identifizieren – vielleicht aber auch nicht.

Storytelling aus Strategischer Sicht
Oder: Vom Ich! Ich! Ich! zum Du.

Als Personal Brand kommen wir nicht darum herum, von uns selbst zu erzählen: Vielleicht war es das lähmende Burnout, das zur völligen Neuausrichtung geführt hat. Vielleicht ein schmerzhaftes Scheitern, aus dem wichtige Erkenntnisse für spätere Erfolge entstanden sind. Oder ein Verlust, der letztlich neue Perspektiven eröffnet.

Geschichten wie diese machen uns als Persönlichkeit greifbar – und verraten mehr über unsere Motivation und Haltung als jede Positionierung in einem Elevator Pitch.

Doch sobald es um die Relevanz unserer Leistung für andere geht, dürfen Personal Brands nicht in ihre Lieblingsfalle tappen. Denn nein – sie sind nicht der Held in diesem Narrativ. Anders formuliert: Nicht ich löse die Probleme meiner Kund:innen. Sie lösen sie – aber eben mit meiner Hilfe. Und genau dieser Perspektivwechsel ist dringend notwendig.

Denn eine wirkungsvolle Geschichte ist nunmal kein Selfie.
Geht es darum, Probleme zu lösen, stehen wir nicht im Zentrum
– wir stehen an der Seite.

Als Sidekick, sozusagen.

Als der, der im richtigen Moment den entscheidenden Hinweis gibt. Der Orientierung bietet, wenn alles wackelt. Und der Mut macht, wenn es ernst wird.

In genau dieser Rolle liegt unsere Relevanz: Nicht im Rampenlicht – sondern dort, wo wir Handlungsfähigkeit beim Gegenüber ermöglichen.

Dazu müssen wir die Frustrationen, Sackgassen und wiederkehrenden Hürden unseres Gegenübers verstehen lernen und ggf. auch einmal zu- und hinhören – um uns dann zu fragen, inwiefern wir tatsächlich helfen können. Fachlich, strategisch – aber auch auf einer ganz persönlichen Ebene.

Wo meine Leistung eine Lücke schließt, werde ich Teil der Geschichte anderer. Und hier wird es aus Markensicht erst spannend: Nicht als Held – sondern vielmehr als jemand, der eine ersehnte Veränderung möglich macht.

Von der Inszenierung zur Identität

Marke ist nur ein Abbild. Eine Art Reflektion all dessen, was ich von mir zeige und kommuniziere. Je klarer ich also meine Identität formuliere – etwa durch bewusstes Branding und Storytelling –, desto klarer wird auch das Bild, das andere sich von mir machen.

Storytelling lässt sich strategisch einsetzen, um ein Stück weit Kontrolle über die Wirkung einer Personal Brand zu gewinnen. Doch effektives und dabei auch noch effizientes Storytelling braucht zu allererst Tiefe – und den Mut zur Ehrlichkeit.

Es braucht den Blick nach innen. Und damit die Bereitschaft, sich zu fragen: Welche meiner Geschichten ist nicht nur erzählbar – sondern erzählenswert? Und: Wie erzähle ich eine Geschichte so, dass sie – ganz beiläufig – ausdrückt, wer ich also bin?

Mein größter USP bin ich selbst.
Anstatt also Persönlichkeit zu inszenieren,
gilt es, Identität in Szene zu setzen.

Lass dich vom feinen Unterschied in der Formulierung nicht täuschen – denn inhaltlich ist die Bedeutung grundverschieden. Inszenierung orientiert sich oft an der Erwartungshaltung anderer. Sie führt eher zur Anpassung als zur Authentizität. Identität in Szene zu setzen hingegen bedeutet, sichtbar zu machen, was mich im Innersten ausmacht. Und das ist eigen. Und damit ganz anders.

Genau darin liegt Differenzierung.
Und ist Differenzierung nicht genau das, was gute Marken wollen?

Jeder Mensch (und damit auch jedes Unternehmen) trägt etwas Einzigartiges in sich. Etwas, von Bedeutung. Und damit etwas, das sich zu erzählen lohnt.

Auch Luca.

Vielleicht weiß er es nur noch nicht.


Plus in Kreis

Vesna Katanic
Illustration