#022

Text:
Florian Hämmerle

Failure as an Option
Stories brauchen Konflikte

Zell- und Gentherapie kann Krebs heilen. Dazu werden, stark vereinfacht, Zellen eines Patienten entnommen, umprogrammiert und dem Körper in Form eines Medikaments wieder zugeführt. Dieser bekämpft dann eigenständig den Krebs.

Studien belegen eine sehr hohe Erfolgsquote. Doch die Therapie ist aufwändig, der Prozess intransparent und durch manuelle Eingriffe fehleranfällig. Jedes Medikament muss individuell hergestellt werden – und das unter hohem Ressourceneinsatz: Zeit, Personal, Infrastruktur – also Geld.

Die Folge: die Therapie ist nur über klinische Studien zugänglich – dann, wenn der Patient bereits todkrank und ein Scheitern rechtlich unproblematisch ist – oder, wenn der Patient selbst über die notwendigen Mittel verfügt.

Daniela Buchmayr möchte das ändern.

Sie ist Director for Innovation and Application Development in einem Konzern, der auch die Pharma Industrie mit Technologien beliefert. Sie schlägt vor nach einer Lösung forschen, die den Prozess der Zell- und Gentherapie automatisiert, miniaturisiert und über Sensorik mess- und damit nachvollziehbar macht. Daniela entwickelt eine umfangreiche Strategie, die sie schließlich vor dem Vorstand präsentiert. Dort erhält sie durchaus Anerkennung: Die Idee sei überzeugend und könne funktionieren. Dennoch kommt es nie zu einer Umsetzung: zu langfristig. Zu teuer.

Enttäuscht und frustriert verlässt Daniela das Unternehmen und gründet mit Forschern unterschiedlicher Disziplinen das Startup Sarcura. Gemeinsam entwickeln sie Modul für Modul eine Technologie, die für die Behandlung von Krebs wegweisend sein könnte. Das Ziel: Die vielversprechende Therapie jedem zugänglich zu machen, der sie benötigt.

Das Startup findet schnell Unterstützer – obwohl noch einige Jahre vom ersten Prototypen entfernt. Das liegt nicht nur an der guten Vernetzung der Gründer: In Gesprächen mit Investoren höre ich immer wieder, dass vor allem Danielas Hintergrund und ihre Persönlichkeit überzeugt hätten.

Ihre Geschichte macht also vieles richtig: Sie kommuniziert authentisch das, was Sarcura ausmacht. Und ist – und zwar völlig intuitiv – ein hervorragendes Beispiel für effizientes Storytelling.

Cause and Effect

In einem Workshop mit Studierenden begeben wir uns auf Ursachenforschung. Wir fragen uns, warum Danielas Geschichte Menschen dazu bewegt, sie zu unterstützen. Die Antworten der Studierenden sind vielfältig:

  • Es handelt sich um eine wahre Geschichte. Das hat mehr Kraft als jedes Marketing.
  • Die Vision spricht Investoren an, die Projekte mit Impact unterstützen möchten. Auch reiche Menschen wollen Gutes tun.
  • Krebs kann jeden treffen.
  • Die Therapie gibt es bereits. Es geht nur noch darum, sie zugänglich zu machen. Das wirkt machbar.
  • Es schwingt automatisch Erfahrung mit. Die meisten Startups müssen ihr Standing erst erarbeiten, sich viele Skills beibringen. Daniela hat sie schon.
  • Die Idee, dass sich nur Wenige die Behandlung leisten können, ist ungerecht und triggert etwas in uns.
  • Es bestätigt unser Vorurteil gegenüber Konzernen, die kurzfristigen Profit über das langfristige Gemeinwohl stellen. Wenn etwas unsere Meinung bestätigt, hören wir auch zu.
  • Die Geschichte hat noch kein Happy End. Sie braucht uns.

Die banalste Antwort kommt ganz ohne Argumente aus:
Wie könnte man so ein Startup nicht unterstützen, wenn man die Möglichkeiten dazu hat?

Als der Studierende mein Lächeln bemerkt, fügt er fast schon trotzig hinzu: „Stimmt doch.“ Und natürlich hat er Recht. Denn anders lässt sich die Wirkung, die gute Narrative auf uns haben, nicht in Worte fassen.

Ben is dying

Wollen wir den Effekt guter Geschichten verstehen, ist es sinnvoll, sich mit den Erkenntnissen von Paul Zac auseinanderzusetzen. Er ist Neuroökonom – ein Forscher, der die Prinzipien der Neurowissenschaften auf das Gebiet der Wirtschaftswissenschaften anwendet. In seiner Veröffentlichung „Why Inspiring Stories Make us React: The Neuroscience of the Narrative“ beschreibt er eine Studie, in der zwei ident zusammengesetzte Versuchsgruppen jeweils ein Video von einem Vater und seinem Sohn gezeigt wird.

Das übergeordnete Thema ist Krebs bei Kindern. Die Probanden erhalten eine Entschädigung für ihre Zeit – und auch die Möglichkeit, einen Teil dieser Entschädigung einer NGO zu spenden, die Familien mit krebskranken Kindern unterstützt.

Das erste Video zeigt einen Vater und seinen Sohn an einem sonnigen Tag im Zoo. Es wird ein Tumor erwähnt, der Junge hat einen kahlen Kopf. Ansonsten ist die Geschichte nicht weiter bemerkenswert und besteht aus einer einfachen Abfolge banaler Situationen.

Das zweite Video zeigt einen Vater, der am Boden zerstört ist. Er spricht mit gebrochener Stimme, während im Hintergrund sein Sohn Ben glücklich auf der Schaukel hin und herwippt.

Der Vater erzählt, wie schwierig es für ihn sei, mit Ben zu spielen. Denn der sei so glücklich, so wundervoll. Aber er wisse, was Ben nicht weiß: Dass Ben stirbt.

Wir begleiten den Vater in seinem täglichen Kampf, für Ben da zu sein ohne sich von seiner Trauer überwältigen zu lassen. Und erleben schließlich seine Verwandlung zu einem Menschen, der lernt, das Unvermeidliche anzunehmen und sich jeden Moments zu erfreuen, den er noch mit seinem Sohn verbringen darf.

Bis Ben stirbt.

Der pyramidale Aufbau von Gustav Freytags Drama (1863)

Grafik: Florian Hämmerle

The Neuroscience of the Narrative

Während die erste Gruppe einen Film ohne Handlungsbogen erlebt, sieht die zweite eine kurze Geschichte, die sich am Aufbau eines klassischen Dramas nach Gustav Freytag orientiert. Die Geschichte lebt von einem zentralen Konflikt, der unweigerlich auf die Katastrophe zusteuert. Das wissen wir. Und dennoch hält sie unsere Aufmerksamkeit bis zum Schluss – wir wollen wissen, wie der Vater mit der Tragödie umgeht.

Der Unterschied in der Spendenbereitschaft ist bemerkenswert: Während von der ersten Gruppe nur Einzelne spenden, opfert die Hälfte der zweiten einen Großteil ihrer Entschädigung an besagte NGO.

Das passiert völlig freiwillig, was beeindruckt – immerhin ist der finanzielle Anreiz für viele das Hauptmotiv, überhaupt erst an einer solchen Studie teilzunehmen.

Die Ursache für diese Verhaltensänderung findet Paul Zac in der Neurochemie: Blutproben zeigen, dass bereits nach wenigen Szenen der Cortisol-Wert im Gehirn ansteigt. Hält die Geschichte die Aufmerksamkeit lange genug, gelangen die Probanden in einen Zustand der Immersion – es wird Oxytocin ausgeschüttet.

Cortisol ist ein Stresshormon. Es lässt unser Herz kräftiger schlagen, beschleunigt die Atemfrequenz, schärft unsere Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung. Oxytocin wird hingegen als Bindungshormon oder Kuschelhormon umschrieben; Es wirkt unter anderem stressmindernd und steuert unser psychisches Wohlbefinden.

Die Universität Zürich hat den Zusammenhang von Oxytocin auf das Vertrauen in andere Menschen genauer untersucht und festgestellt, dass der Neurotransmitter Empathie fördert – und damit unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, mit ihnen zu fühlen. Und auch Paul Zac kommt zu einem ähnlichen Schluss: Er bezeichnet Oxytocin als „the Moral Molecule“ – also als Auslöser moralischen Verhaltens.

Oxytocin kann nicht nur unsere Einstellung gegenüber einer Person oder einem Thema verändern. Es kann sogar unser soziales Verhalten beeinflussen.

Um Geschichten diese Wirkung zu geben, sind starke Narrative notwendig. Die brauchen eine Dramaturgie und also einen Konflikt, so Paul Zac.

Kurt Vonneguts Erzählbogen „Man in a Hole“ ist eine einfache Blaupause für dramatische Narrative.

Grafik: Florian Hämmerle

Marketing in Conflict

Gute Geschichten schaffen also Aufmerksamkeit und fördern Vertrauen – und das bereits auf Ebene der Neurochemie. Gutes Branding hat eine ähnliche Aufgabe: Aufmerksamkeit für Botschaften zu generieren und gleichzeitig das Vertrauen zu vermitteln, dass diese auch ernst gemeint sind. Stehen die beiden Aspekte im Widerspruch wird es schwierig, die Ziele der Kommunikation – Verhalten zu bewirken – auch zu erreichen.

Da verwundert es nicht, dass Storytelling zum Buzz-Word der Kommunikations-Branche verkommen ist. Und das, obwohl sich diese Branche oft besonders schwer tut, überhaupt erst Geschichten zu erzählen. In Marketing-Abteilungen herrscht vielerorts noch heute die Ansicht, dass eine Marke mit nichts Negativem assoziiert werden dürfe. Die Folge ist eine Verkürzung: Statt Probleme anzusprechen und damit Relevanz zu schaffen, springen viele einfach zur Lösung. Das ist einigermaßen paradox: Denn welchen Sinn hat eine Lösung, wenn das Problem gar nicht existiert?

When you want to motivate, persuade, or be remembered, start with a story of human struggle and eventual triumph. It will capture people’s hearts – by first attracting their brains.

Paul Zac

In meinen Workshops experimentieren wir mit Handlungsbögen, um Narrative zu verstärken. Als Hilfestellung dient ein Arbeitsblatt, das ich an Kurt Vonneguts Erzählbogen „Man in a Hole“ anlehne – einem von insgesamt sechs Plots, die der amerikanische Autor in Literatur und Film identifiziert hat.

Sein Aufbau ist relativ einfach umrissen:

  • Comfort Zone: Nicht unbedingt ein schlechter Ort. Und doch fehlt etwas. Der Protagonist verschwendet sein Potenzial.
  • Trigger: Ein Unglück, selbst- oder fremdverschuldet. Etwas wirft den Protagonisten aus der Bahn.
  • Crisis: Ein Tiefpunkt. In der Dunkelheit findet oder lernt der Protagonist etwas von großem Wert.
  • Recovery: Ein Neubeginn, der Wiederaufstieg beginnt. Der Protagonist setzt ein, was er in seiner dunkelsten Stunde gelernt hat.
  • Better Place: Ein Happy End. Gereift (und gealtert), formt sich unser Protagonist eine neue, bessere Welt.

Also beschäftigen wir uns mit längst verdrängten Erlebnissen der Studierenden und setzen sie neu zusammen. Und nicht jeder fühlt sich damit wohl. Ich stelle den Teilnehmern also frei, wer erzählen möchte und wer nicht. Was folgt, ist bemerkenswert:

Als der erste Teilnehmer zu sprechen beginnt, ist es im Raum völlig still.

Er erzählt, dass er in einem Unternehmen gearbeitet habe, das von sich behauptet, innovativ zu sein. Wie er belächelt wurde und immer wieder gegen Wände angelaufen sei. Dass er aber an seine Ideen glaube und mit seinem Startup beweisen wolle, dass sie auch funktionieren. Ein anderer gibt zu, dass das bereits sein zweites Startup sei. Er habe völlig am Markt vorbei entwickelt – ein Fehler, der ihm nicht noch einmal passieren werde. Und eine dritte meint, sie habe einen geliebten Menschen verloren. Und wolle deswegen für ein Startup arbeiten, das sich der Früherkennung von Krankheiten widmet.

Natürlich sind nicht alle Geschichten so eindrucksvoll. Und es erfordert Mut über die Tiefpunkte unseres Lebens zu sprechen. Wir zeigen uns immerhin von einer verletzlichen Seite. Unsere Erzählung macht aber auch nahbar. Und gibt dem Gegenüber einen Einblick in unsere Persönlichkeit und unsere Fähigkeit, auf Niederlagen zu reagieren, an ihnen zu wachsen.

Die kurzen Geschichten vermitteln nicht nur, wer wir sind. Sondern auch, wie wir dazu geworden sind. Was uns antreibt und was uns ausmacht. Wie wir mit Krisen umgehen und was wir aus ihnen mitnehmen. Und in manchen Fällen auch, welche Strategien wir entwickelt haben, um Niederlagen in Zukunft zu vermeiden.

Das schafft Vertrauen, weit über die fachliche Kompetenz hinweg.

Die Botschaften von Sarcura in einem Bild: Herausforderung, Aufruf, Strategie.

Failure as an Option

Aber zurück zu Danielas Geschichte: Sie enthält gleich mehrere Elemente fesselnden Storytellings – eine große Ungerechtigkeit, eine kämpferische Protagonistin, eine tragische Wendung, einen traurigen Tiefpunkt, einen mutigen Neuanfang, kompetente Mitstreiter, eine klare Strategie und eine große Vision.

Der zentrale Konflikt – das Scheitern vor ihrem Arbeitgeber – macht Danielas Frustration und damit auch ihren Antrieb greifbar. Er vermittelt das Bild einer willensstarken und resilienten Persönlichkeit, die ein persönliches Risiko eingeht, um eine Idee zu verwirklichen. Und folgt einer Dramaturgie, die Spannung erzeugt und das Ende offen lässt.

Durch ihre Geschichte erfährt ein Investor nicht nur Wesentliches über Danielas Hintergrund, sondern bekommt auch ein Gefühl dafür, wie sie auf Hindernisse reagieren wird: Sie wird für das, woran sie glaubt, kämpfen. Das verschafft ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen – zumindest auf der emotionalen Ebene.

Da ist es nur konsequent, dass wir ihre Geschichte als Ausgangspunkt für den Markenkern weiterdenken. Sie wird zum narrativen Anker für das Storytelling von Sarcura. Der Claim „Bring it to life“ ist eine logische Spitze und richtet sich als Aufruf ganz bewusst an Partner und Investoren. Denn zunächst einmal gilt es Unterstützer zu finden, die an Danielas großer Vision mitwirken wollen.

Partner und Investoren werden zum Teil der Geschichte. Und verhelfen ihr (mit etwas Glück) zu dem Happy End, das sie auch verdient.

Ich für meinen Teil bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht. Und bin froh, Teil dieser aufregenden Reise zu sein.

Fortsetzung folgt, also. Da bin ich mir sicher.

 


Lisa Vlasenko
Fotografie