#024

Text:
Andrea Holzner

Von Lücken und Leerstellen:
Frauen in der Geschichte

Warum ist das ein Branding-Thema? Marken erzählen Geschichten. Geschichten brauchen Charaktere. Es liegt in unserer Verantwortung als Gestalter, wie wir diese Charaktere entwickeln. Ob wir es uns leicht machen und unreflektiert Stereotype und Klischees weitertragen oder ob wir uns um komplexe und dadurch erst greifbare Persönlichkeiten bemühen – also Menschen, die in Kern und Wesen auch wirklich einzigartig sind. Mehr zu den Beweggründen zu dieser Auseinandersetzung findest du hier.

Wer wählt eigentlich aus, welche Inhalte in unseren Schulbüchern landen? Ein Ereignis findet nicht statt und steht plötzlich im Geschichtsbuch von Lisa Huber, Klasse 10c. Geschichte ist keine bloße Abfolge von Vorfällen. Geschichte ist vielmehr ein kollektiver evolutionärer Prozess, an dem wir alle mitwirken. Welche Ereignisse beschrieben und festgehalten werden, welche Personen uns im Nachhinein als ausschlaggebend für die Entwicklung in Erinnerung bleiben, ist nicht objektiv. Es findet immer eine Selektion statt, worüber und über wen gesprochen und geschrieben wird.

Geschichte wird von Männern geschrieben – nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich. Schaut man sich auf Wikipedia einmal die Liste zeitgenössischer prominenter Historiker*innen an, muss man lange scrollen, bis man auf den ersten Frauennamen stößt. Unter insgesamt 752 gelisteten Personen finden sich nur 52 Frauen.

Infografik: Andrea Holzner

Es ist nicht so, als wäre allein der erschwerte Zugang zu Bildung Ursache für die scheinbar selteneren geschichtlichen Errungenschaften von Frauen. Nicht nur wurden ihre Leistungen weniger beachtet und wertgeschätzt, es gab aktive Bestrebungen, Frauen wieder „an ihren Platz zu verweisen“ und ihre Ambitionen zu unterbinden. Während Wolfgang Amadeus Mozart weltbekannt ist, erinnern sich wohl die Wenigsten an seine Schwester „Nannerl“ – und wenn dann nur als Mozarts kleine Schwester und nicht als begabte Pianistin und Komponistin. Das Geschlecht ist natürlich nicht der einzige ausschlaggebende Faktor für die (fehlende) Anerkennung und Bewertung der Leistung von Personen. Auch andere marginalisierte Gruppen erhalten in der historischen Dokumentation nicht die Anerkennung, die ihre Leistung verdient, ob beispielsweise People of Colour, queere Personen oder Menschen mit Behinderung.

"Bei der Unsichtbarmachung wird eine Frau aus der Geschichte ausradiert. Hierfür gibt es viele Methoden: der Frau nur eine Nebenrolle zugestehen, sie komplett verschwinden lassen, ihre Taten minimisieren, ihr Leben falsch darstellen (sogenannte 'schwarze Legenden'), ihre Arbeit unwichtig erscheinen lassen oder sie anderen Menschen zuschreiben, sie auf die Rolle der Frau oder der Schwester von jemandem beschränken, Selbst-Unsichtbarmachung usw.. […]"

Marguerite Nebelsztein
Feminismus-Kollektiv Georgette Sand

In der Frühen Neuzeit war jede Frau, die sich außerhalb der ihr vorgeschriebenen Rolle oder männlicher Kontrolle bewegte, Objekt des Misstrauens. Das konnten alleinstehende Frauen sein, Witwen oder Frauen mit Kenntnissen der Naturheilkunde, die sie vor allem zur Unterstützung anderer Frauen einsetzen. Dieses Misstrauen gipfelte in der Anklage und Hinrichtung dieser Frauen als „Hexen“, die angeblich mit bösen Mächten im Bund seien.

Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts versprach die Aufklärung zunächst Veränderung. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts schien sich die Tür zu Bildung, Beruf und anderen gesellschaftlichen Bereichen auch für Frauen zu öffnen: In den „Moralischen Wochenschriften“ wurden kritische Rollenfragen gestellt und das Bild der intellektuellen und gebildeten Frau gepflegt (Die „Moralischen Wochenschriften“ waren periodische erscheinende Zeitschriften im 18./19. Jhd, die moralische und ethische Themen behandelten und die gesellschaftliche Diskussion maßgeblich beeinflussten). Die vorherrschenden Geschlechterrollen begannen zu wackeln. Als Reaktion auf diese Verunsicherung kippte das Frauenbild. Dem sogenannten „natürlichen Geschlechtscharakter“ nach lägen „Häusliche Fähigkeiten“ in der Natur der Frau: Fürsorge, Sittsamkeit und Fleiß wurden zu scheinbar hochgeschätzten und erstrebenswerten Eigenschaften. Doch auch diese Hochstilisierung der Frau zur „sanften Heiligen“ ist eine eindimensionale Erzählung und verbannt Frauen in die Passivität. Frauen mangle es angeblich an Objektivität und Urteilsfähigkeit – sie galten als unmündig.

Jeder dieser Aspekte bietet mehr als genug Stoff für einen eigenen Artikel, wenn nicht sogar für ein Buch oder ganze Publikationsreihen. Diese Themen grob anzureißen, gibt aber zumindest einen kleinen Einblick, welche vielschichtige Mechanismen auch heute noch nachwirken und auf die Bewertung der Leistungen von Frauen Einfluss haben. Sie zeigen auf, dass es oberflächlich und zu kurz gegriffen wäre zu behaupten: „Frauen hatten früher eben weniger Möglichkeiten, aber heute ist das ja zum Glück ganz anders ist“.

Erfolg ist nicht gleich Erfolg

Auch heute werden die Leistungen von Frauen immer noch häufig als abseits der Norm wahrgenommen und in einer eigenen Kategorie gewertet. Frauenliteratur, Frauenfußball oder auch die Bezeichnung der „Powerfrau“. Erfolg ist nicht gleich Erfolg. In unsere Bewertung einer Leistung fließt auch ein, wer sie erbracht hat.

Manche Charaktereigenschaften werden auch heute noch eher mit Männern assoziiert, während andere den Frauen zugeordnet werden. Die Wiederholung der entsprechenden Klischees an dieser Stelle braucht der Artikel nicht – jede*r hat so oder so Stereotype im Kopf. Die selben Eigenschaften werden außerdem unterschiedlich bewertet, je nachdem, ob sie bei einer Frau oder einem Mann beobachtet werden. Während ein aufgebrachter Mann eher als bestimmt und durchsetzungsstark wahrgenommen wird, fallen bei Frauen schneller Begriffe wie „hysterisch“ oder „irrational“. Diese Umwertung lässt sich auch andersherum erkennen – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Männer werden beispielsweise eher als „empfindlich“ und „Mimosen“ beurteilt, wo Frauen als empathisch wahrgenommen werden. Vom Aufbrechen starrer Geschlechterrollen profitieren also alle Geschlechter.

Marguerite Nebelsztein vom französischen Feminismus-Kollektiv Georgette Sand spricht in diesem Kontext auch von „Selbst-Unsichtbarmachung“. Frauen spielen ihre Errungenschaften herunter und nehmen sich zurück, weil ihnen von früh auf beigebracht wurde, welches Verhalten für Frauen akzeptabel ist – und welches eben nicht. Frauen, die stolz über ihre Leistungen sprechen, bekommen zum Beispiel schnell den Stempel der „arroganten Karrieristin“ aufgedrückt. Auch diese Selbsteinschätzung ist ein Abbild einer internalisierten Konstruktion. Frauen sind aber eben nicht „von Natur aus bescheidener“, sondern haben gesellschaftliche und patriarchal geprägte Erwartungshaltungen verinnerlicht.

Frauen und Männer haben mehr gemeinsam, als sie trennt

Ein Blick auf den wissenschaftlichen Hintergrund zeigt, dass die Frage nach klaren, wissenschaftlich belegten Unterschieden zwischen Männern und Frauen komplex ist.

Auf körperlicher Ebene unterscheiden sich Männer- und Frauenkörper in ihrem Gewebe und Organsystem sowie im Auftreten, Verlauf und in der Ausprägung der meisten häufigen menschlichen Erkrankungen. In den wissenschaftlichen Daten gibt es dazu aber eine geschlechtsbezogene Lücke; man spricht vom sogenannten „Gender Data Gap“ oder „Gender Data Bias“. Studien beziehen sich vor allem auf bei Männern erhobene Daten, die in Lehrmaterialien folglich als „Norm“ gehandhabt werden. So kommt es dazu, dass beispielsweise Herzinfarkte bei weiblichen Patientinnen häufiger später erkannt werden, fehldiagnostiziert werden oder komplett übersehen werden, da sich ihre Symptome von den männlichen Lehrbuchsymptomen unterscheiden.

Auf psychologischer Eben sind die Unterschiede weniger groß. Die Persönlichkeit eines Menschen lässt sich nur schwer quantifizieren, was die genaue Erfassung herausfordernd macht. Einen Ansatz zur Beschreibung bietet das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell. Dieses Modell definiert fünf Eckpunkte zur Beschreibung der Persönlichkeit eines Menschen: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit (Empathie und Rücksichtnahme) sowie Neurotizismus (emotionale Verletzlichkeit).

Infografik: Andrea Holzner

Forschende stellen vor allem in zwei dieser Bereichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern fest: bei der Verträglichkeit und beim Neurotizismus. Beide Merkmale waren im Durchschnitt bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Im ersten Moment scheint das die These von der Unterschiedlichkeit zu bestätigen. Spannend wird es hier, wenn man sich die Studie im Detail anschaut. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigte sich nämlich vor allem dann, wenn die Teilnehmenden direkt befragt wurden, also sich selbst einschätzen sollten. Wurden die Unterschiede implizit erhoben (beispielsweise mithilfe von Assoziationstests), waren die Unterschiede deutlich kleiner. Erwartungen und unbewusste Vorstellungen, wie wir zu sein haben, beeinflussen unser Bild auf uns selbst und unsere Fähigkeiten – und ebenso den Eindruck, den wir von anderen haben.

"Ob kognitive Leistungen, Persönlichkeit, Sozialverhalten oder allgemeines Befinden: Wenn es überhaupt messbare Unterschiede gab, waren sie überwiegend klein oder sehr klein. Wenn Männer und Frauen also derart viel gemein haben: Weshalb glauben dann so viele fest daran, dass die Geschlechter verschieden sind?"

Konstanze Kindel
für das GEO Magazin

Es gibt sie natürlich, Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Besonders bei psychologischen Eigenschaften zeigt die Forschung aber, dass diese viel minimaler sind, als zumeist wahrgenommen. Da wir als Menschen aber dazu neigen, uns vor allem an die Extremen zu erinnern, fallen Mittelwerte leicht durch das Raster unserer Wahrnehmung. Was bleibt also hängen? Die eine Person, die uns extrem in ihren geschlechtsspezifischen Merkmalen erscheint und unsere unbewussten Klischees erfüllt – nicht die unzähligen Menschen, die irgendwo in der Mitte liegen. Männer und Frauen trennt weniger in ihrem Fühlen und Denken, als sie gemeinsam haben.

Frauen brauchen mehr als ein Mikrofon

Gerne wird im Kontext der Geschlechtergerechtigkeit davon gesprochen, „Frauen eine Stimme zu geben“. Das Problem ist in vielen Fällen aber nicht, dass Frauen „einfach nicht laut genug“ sind. Frauen haben eine Stimme, sie haben etwas zu sagen. Es geht darum, ihnen auch zuzuhören. Es geht darum, aktive Bemühungen, ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen, zu bekämpfen. Es geht darum, die Strukturen so zu verändern, dass jede Stimme gleich viel zählt.

Die Geschichtswissenschaftlerin Angelika Epple weist darauf hin, dass es nicht damit getan ist, der Geschichtsschreibung einige weibliche Perspektiven hinzuzufügen und sich dann zurückzulehnen. Es geht vielmehr darum, die bestehende Geschichte neu zu beleuchten und den Bias (systematische fehlerhafte Neigung beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen), der durch die überwiegend männliche Autorenschaft entstanden ist, zu begradigen.

Quellen:
Kindel, C. (2023, 10. Februar). Wie sich Frau und Mann unterscheiden. geo.de.
Vahsen, M. (2021, 7. Dezember). Bpb.de – Frauenbewegung. bpb.de.
ak analyse und kritik. (2020, 15. Dezember). Die Angst vor der Macht der Frauen. Ak Analyse und Kritik.
Opitz-Belakhal, C. (2023, 7. Juli). Hexenverfolgung. bpb.de
Big five Persönlichkeitsfaktoren. (o. D.). Lexikon der Psychologie.
Paletschek, Sylvia: Die Geschichte der Historikerinnen : Zum Verhältnis von Historiografiegeschichte und Geschlecht, in: Freiburger FrauenStudien : Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung, Jg. 13 (2007) Nr. 20, 27-49. DOI
IEG. (o. D.). Moralische Wochenschriften — EGO. EGO | Europäische Geschichte Online.
Bock, G. (1988). Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte. Geschichte Und Gesellschaft, 14(3), 364–391.

Weiterführende Lese- und Hörtipps:
Zaimoglu, F. (2019). Die Geschichte der Frau. (Roman, Kippenhauer&Witsch)
Schöler, L. (2024). Beklaute Frauen: Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte. (Sachbuch, Penguin Verlag)
HerStory | Geschichte(n) von Frauen und Queers. (2024, 20. März). HerStory.
Interaktiver Fragebogen zu den „Big Five“ der Universität Leipzig