Stille:
Ein Versuch
Ich halte viele meiner Beobachtungen in Textfragmenten fest. Manchmal sind das einzelne Worte, manchmal lose Sätze. Manchmal werden daraus aber auch kleine Geschichten, in denen ich mit Worten, Erzählstrukturen oder Charakteren experimentiere. „Der Statist“ ist das erste Kapitel zu „Stille“, einer Kurzgeschichte, die ich in einem Zug von Graz nach Wien begonnen habe. Sie ist unfertig und wird das wohl auch bleiben – ein neugieriger Versuch, das Modell der Archetypen auf das Schreiben anzuwenden und Charaktere zu zeichnen, die bereits in wenigen Sätzen greif- und nachvollziehbar sind.
Der Statist
Es war Montag früh und es regnete. In die Empfangshalle drängte bereits das Leben und K. hatte seinen üblichen Platz eingenommen. Nahe am Eingang, auf der harten Gitterbank – dort wo er einen guten Blick hatte und unscheinbar genug wirkte, dass er nicht zu sehr auffiel. Das Notizbuch lag aufgeschlagen auf seinen Schenkeln und er vermerkte das Datum des heutigen Tages.
Der Bahnhof hatte etwas Magisches. Ein stimmloses Murren verlor sich in der imposanten Halle. Die Lichtstimmung veränderte sich fließend mit jeder Regenwolke, die am Himmel vorbeizog. Hier reichten sich Anfang und Ende die Hände, ein schöpferischer Raum, der Geschichten immer wieder neu erfand und weiter spannte.
K. zog sich gerne hierher zurück. Hier fühlte er sich geborgen.
Und zwischen all diesen Fremden ein kleines Bisschen weniger allein.
Der Tag begann wie üblich. Doro öffnete unter metallischem Kreischen das Gitter ihres Blumenstands und hielt kurz inne, um K. einen strafenden Blick zuzuwerfen. Sie mochte ihn nicht, was unschwer zu erkennen war. Dass er sie ständig beobachtete und sich dabei auch noch Notizen machte, war ihr unheimlich. Immer wieder stellte sie ihn zur Rede, bekam aber bis auf einen nichtssagenden Blick keinerlei Antwort.
Gerüchte über sein Schweigen machten die Runde. Die Bediensteten der Bahnhofshalle ersannen von Tag zu Tag neue; Die einen hielten ihn für einen Ausländer, der sie gar nicht erst verstehen konnte. Manchmal fragten sie ihn, was er wolle – in einem vertrottelten Deutsch, als könne er nicht auf drei zählen. Andere unterstellten ihm, er sei von der Blumenfrau besessen und stelle ihr nach. Ein vernarrter Sonderling, hieß es. Das stimmte zwar auch nicht, schmeichelte aber Doro und stimmte sie zumindest etwas milder.
Die Wahrheit war wie immer banal. Denn K. konnte nicht sprechen. Und anders als andere hatte er keine Stimme. Seit er etwa fünf war, hatte er mit seinem Umfeld kein Wort mehr gewechselt. Und die Psychologen waren sich unschlüssig darüber, ob er nicht konnte, oder einfach nicht wollte.
Er selbst gefiel sich in dem Gedanken, aus Protest zu schweigen.
Als stille Rebellion gegenüber den Menschen, die, wie er fand, ständig sprachen, aber so unglaublich wenig zu sagen hatten.
K. plagte aber auch die Wehmut. Denn er liebte die Sprache, den Klang der Worte. Die Stille isolierte ihn. Einem Statisten gleich, stand er mitten im Leben, konnte aber nicht teilhaben. Er sehnte sich nach Normalität, einem echten Leben. Mit all seinen trivialen Episoden.
Episoden, die in der Empfangshalle am Bahnhof in einer Fülle geschahen, wie sonst nirgendwo. Stundenlang saß er fast regungslos, lauschte und beobachtete. Sein Bleistift kratzte über die Seiten, die er immer und überall bei sich trug. So auch heute.
Inzwischen hatte der Berufsverkehr eingesetzt und das stimmlose Murren wurde drängender. Menschen strömten aus dem Regen in die Halle, schüttelten ihre Schirme aus oder warfen eine durchnässte Zeitung in den Abfall, die bis eben noch als Regendach gedient hatte. Unter ihnen erkannte K. das ein oder andere vertraute Gesicht; Freunde, wie er sie nannte. Jedem einzelnen von ihnen widmete er eine eigene Seite in seinem Buch.
Da war zum Beispiel der junge Mann im Anzug, er nannte ihn Ben, der wie jeden Tag ins Büro hastete, um für andere anzuschaffen. Jung und ehrgeizig wusste er noch nicht, dass die Arbeit unmöglich schon alles sein konnte. Er jagte nach Status und Anerkennung und grub mit dem Elan seiner Jugend den Alten das Wasser ab. Seine chronische Müdigkeit übersah er gewissenhaft. Und ständig getrieben zwischen einem Haben und Wollen wunderte er sich viel zu wenig, warum die Werbeparolen nicht funktionierten.
Es war ein seltener Moment, als Ben kurz innehielt, verwirrt auf die Anzeige starrte und sein Hemd zurückkrempelte, um seinen Chronometer zu studieren. Sein Zug hatte Verspätung; Es war dreiviertel Acht und die Ruhe machte ihn unruhig.
Und da war Mei Linh, die wie immer um diese Uhrzeit ihren Vierjährigen hinter sich herzog. Der kleine Junge, der jeden Tag etwas dicker wurde, strampelte wütend, als er versuchte, den Arm aus dem Klammergriff seiner Mutter zu befreien. Er verstand einfach nicht, warum er auf allerlei Köstlichkeiten zeigte, aber seine Mutter keinerlei Anstalten machte, ihm das Gezeigte auch zu kaufen. Mei Linh – war sie Chinesin? Vietnamesin? Japanerin? – zerrte ihn und sein Geschrei hinterher und setzte ihn etwas unsanft auf einen der großen Plastikelefanten, auf dem er gegen nur einen Euro Einsatz lethargisch vor- und zurückschaukelte. Es gab Tage, da mochte sie ihren Sohn ganz gern. Heute war keiner davon.
Sie schämte sich für diesen Gedanken, atmete tief durch, betrat den
Bio-Laden und kaufte sich ein reines Gewissen.
Sie beide waren Darsteller in einem Stück, das sie gar nicht kannten. Denn in seiner Not schuf sich K. seine eigene Welt. Eine Kopfgeburt, wie er sie nannte. Er beobachtete und dichtete, reihte Satz an Satz, legte Wert auf jedes Wort und überlegte sich Handlung, Rollen und Namen für seine Akteure, die von Klang, Länge und Gewicht mit seiner Wahrnehmung übereinstimmten. In seiner Vorstellung saß er im Schatten vor einer hell erleuchteten Bühne, inmitten unzähliger Zuschauer. Er dirigierte als Regisseur, klammheimlich, seinen Spielern blieb er fremd. Und so formte er seine Figuren mit der Aufmerksamkeit und Liebe eines Vaters, der aber nie auf die Strenge vergaß. Und jeden Tag ergänzte er sein Mosaik um ein neues Stück.
Doro etwa belegte gleich mehrere Seiten in seinem Buch. Das lag vielleicht daran, dass sie selbst ein recht offenes Buch zu sein schien. Ihr Blumenstand lag am entfernten Ende der Halle. Auf dem Schild stand ein bemühtes „Doroflores“, was wohl eine Mischung aus dem lateinischen Wort für Blumen und dem Vornamen der Besitzerin, Dolores Hubmann, darstellte.
Der Satz "Sagen Sie es mit Blumen" zollte einem angehenden Marketingberater Tribut, der Frau Hubmann gegen ein Entgelt eine Umsatzsteigerung versprochen hatte.
Doro war seit dreißig Jahren mit einem Irrtum verheiratet, der viel zu schlecht verdiente und sie daher zwang tagtäglich dieses Unkraut zu verkaufen. Dennoch verließ sie ihn nicht. Denn aus Angst vor Veränderung lebte sie lieber ein Leben ohne echte Höhepunkte. Lieb- und lustlos lehnte sie an ihrem Stand, goss widerwillig ihre Einnahmequelle und verbrachte die meiste Zeit damit, sich allerlei Meinung über andere zu bilden. Der betagte
Mann etwa, der langsam aber sicher auf ihren Stand zutrippelte, war ihr bereits ein Dorn im Auge, bevor er seinen Wunsch aussprach.
Sie antwortete laut und unhöflich, was nur allzu verständlich war: Immerhin war ihr Gegenüber alt und wahrscheinlich senil. Ihre strengen Gesichtszüge neigten sich zu Boden, als Alfred – so der Arbeitstitel – nach einer halben Minute immer noch nicht wusste, was er denn endlich kaufen würde. Ihre Frage, ob sie ihm helfen könne, klang wie eine Drohung. Ihre Haltung sackte auf den Tresen, ihr Zeigefinger hämmerte ungeduldig gegen das Holz.
Der alte Mann bemerkte davon nichts. Er war tief in Gedanken versunken. Denn in nur wenigen Stunden würde er der Liebe seiner Jugend wieder begegnen. Da war ihm das welke Blumenkind egal. Wie lange sie sich doch nicht gesehen hatten! Dreiundfünfzig Jahre! Würde sie ihn noch erkennen? Seine Lippen deuteten ein Lächeln an und seine großen Hände griffen nach einem Strauß gelber Blumen, deren Name er nicht kannte. Er war nervös, seine Hände zitterten noch mehr als sonst. Was für ein Narr er doch war.
Was sein Sohn nur dazu sagen würde? Wie unvernünftig.
In diesem Alter! War er denn zu alt für die Liebe?
Ein bunter Fleck stach K. ins Auge. Lena, die Halbstarke aus dem Vorort, hatte sich am Bahnsteig in Pose geworfen. Lasziv nuckelte sie an ihrer Zigarette. Lena war gerade mal fünfzehn, ihr Haare bis zum Ansatz blondiert und ihr Gesicht mit viel Liebe zur Symmetrie aufgemalt. Es erinnerte K. an ein abstraktes Kunstwerk, das mit nur wenigen Strichen aber dafür umso mehr Farbe ein Antlitz andeutete, das dem eines Habichts glich. Zusammen mit ihrer zierlichen Statur versprühte sie in etwa so viel Attraktivität wie ein Pfefferminzbonbon, war sich dessen aber sichtlich unbewusst. Immer wieder verlagerte sie ihren Stand von einem Bein auf das andere und zog den Rauch ihrer Zigarette mit einem scharfen Zischen durch die Zähne. Sie war nervös. Immerhin musste sie, wie so oft, ihren nervigen Alten erklären, wo sie das Wochenende über gewesen war.
Wie jeden Montag Morgen fuhr sie müde und beschwipst nach Hause, bemühte ihre Ausreden und log sich ins Bett.
In der Zwischenzeit hatte sich Doro ruckartig aufgerichtet. Ein junger, adrett gekleideter Mann, ein potenzieller Kevin, hatte ihren Stand betreten und erkundigte sich nach einem Strauß roter Rosen. Ihre Stimme bebte und verfiel plötzlich in einen eifrigen Singsang. Geschäftig beeilte sie sich, die schönsten Blüten für den jungen, feschen Mann herauszusuchen, der sicher erfolgreich war und es deswegen eilig haben musste. Ihre Falten hatten sich von der Vertikalen in die Horizontale verschoben. Überhaupt fiel K. auf, wie wandelbar die Mimik der wechselseitigen Dame war. Als der junge Herr den Stand verließ, folgte ihr Blick etwas verträumt, bevor er wieder auf Alfred fiel und sich also verfinsterte. Sie hielt ihm einen Strauß welker Narzissen entgegen und fragte ihn mit fordernder Stimme, ob er danach gesucht habe.
K. mochte seine neue Figur, schlug eine leere Seite auf und schrieb einen Namen auf das Blatt: Alfred, 74, war ein pensionierter Schiffsbauer, ein ehemaliger Tu-nicht-gut und Verführer. Er kam vom Land, dort, wo man den Namen des Nachbarn noch kannte, den Busfahrer grüßte und einen dieser charmanten Dialekte sprach. All seinen Mut hatte er zusammen genommen und war in die große Stadt gefahren. Denn einsam wie er war, wollte er endlich wagen, wofür er nicht mehr viel Zeit hatte: Sie hieß Martha, war wunderschön und fehlte zu seinem Glück.
"Hallo."
Der irritierende Sprachfehler eines Kindes riss ihn unsanft aus seinem Stück. Erschrocken ließ er den Bleistift fallen, worauf ein etwa sechsjähriges Mädchen amüsiert kicherte. „Du bist lustig“ plärrte sie und sagte damit etwas, das K. zum allerersten Mal hörte. Verwirrt zog er die Augenbraue nach oben – immer die linke, wie ihm auffiel – und registrierte mit Unbehagen, dass das Kind immer näher kam. Neugierig suchte es seinen Blick, lächelte freundlich und trat dann doch einen Schritt zurück, so als hätte es verstanden.
K. musterte das kleine Wesen lange und ausgiebig. Es war recht winzig, hatte einen schlampigen Pferdeschwanz und war, wie die Allgemeinheit es wohl erwartete, rosarot gekleidet. Die Hand des Mädchens würgte ein knallbuntes Plüschtier, das K. keiner bekannten Spezies zuordnen konnte. Fröhlich wippte es auf den Fersen vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück und unternahm einen weiteren Versuch, während es den Kopf schief hielt:
"Hallo. Ich bin Emelie. Und du?"
K. konnte nur mit der Schulter zucken. So gerne hätte er etwas gesagt. Doch lieber noch wollte er schweigen. Denn der Gedanke an seine Stimme war … Ja, hatte er denn eine? Er wusste es nicht. Also sah er sich hilfesuchend um und entdeckte die vermeintliche Mutter inmitten einer Warteschlange vor dem Tabakautomaten. Sie stand da offenbar schon eine Weile und blickte immer wieder besorgt zu ihrem Kind, das verbotenerweise mit einem Fremden redete. Sie schien hin und hergerissen zwischen ihrem Platz in der Reihe und dem Wohl ihrer Tochter. Beides wollte sie nicht so einfach hergeben.
Emelie machte keinerlei Anstalten, zu ihrer Mutter hinüberzugehen, die inzwischen energisch mit den Armen fuchtelte. Stattdessen blickte sie K. lange und direkt ins Gesicht. Ihr Mund war zu einer Frage geformt, die sie dann aber doch nicht aussprach. Stattdessen steckte sie den Finger in die Nase.
Sie musste erstmal nachdenken.
Story abandoned.
Über die Illustratorin: Valeriya Simantovskaya ist eine Künstlerin und Illustratorin, die in Eriwan, Armenien, lebt und arbeitet. Valeriya hat einen Abschluss in Architektur, doch begann bereits während des Studiums sich mit Illustration zu beschäftigen. Seit nun etwa 8 Jahren erforscht sie in ihren Arbeiten die menschliche Natur – insbesondere den menschlichen Körper – sowie die Beziehungen zwischen Menschen und sozialen Phänomenen. Sie experimentiert mit Texturen und Kompositionen. Ihre begrenzte Farbpalette und die einfachen geometrischen Formen verleihen ihren Werken einen minimalistischen Charakter, der Raum für Interpretation lässt. Ein Portrait der Künstlerin sowie eine Auswahl ihrer Arbeiten findest du hier.
Florian Hämmerle
Text
Valeriya Simantovskaya
Illustration
behance