Lester Burnham (American Beauty) masturbating in the shower

12.22

Text:
Florian Hämmerle

Die Heldenreise
Setting the Stage

Viele unserer stärksten Geschichten folgen demselben, uralten Erzählmuster, das der Mythenforscher Joseph Campbell aus Sagen, Mythen und Epen herausdestilliert hat. Im Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ beschreibt er ein Abenteuer, das uns immer wieder neu erzählt, was es heißt, ein Mensch zu sein und was das Menschwerden ausmacht: von der Suche nach uns selbst, von bitteren Abschieden aus vertrauten Bindungen und Gewohnheiten, vom Wachsen und Reifen der Person. Sie erzählt von der Notwendigkeit, in einer Welt voller Ängste, Ungewissheit und Gefahren erwachsen zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie erzählt also … von uns.

Jede Kultur, jede Religion und jede Epoche kennt ein monomythisches Urmodell des Erzählens. Sein Ablauf, seine Etappen und Gestalten spiegeln allgemein menschliche Erfahrungsinhalte, die der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung als Archetypen bezeichnete.

Simon Demmelhuber
Typologie einer Erzählung, 2016

Dieser Monomythos ist hinter unzähligen Masken, Kulissen, Motiven oder Figuren versteckt: Filme wie Pretty Woman, Star Wars, Harry Potter oder Wall-E wirken wie völlig unterschiedliche Werke – allesamt mit einer eigenen Identität. Und doch sind sie im Kern eine Reinterpretation ein und derselben Erzählung.

In meinen Prozessen nutze ich ein abgewandeltes Modell von Campbells Monomythos, Christopher Voglers „Writers Journey“, um die Kommunikation von Marken strategisch zu planen. Der amerikanische Drehbuchautor hat in seinem berühmten „Memo aus dem Story Department“ Campbells 17 Stationen auf 12 verdichtet. Ich halte seinen Ansatz für deutlich zugänglicher und für unsere Zwecke einfacher zu adaptieren. Dazu allerdings erst später.

Hier geht es zunächst einmal darum, zu verstehen. Und dafür tun wir, was am meisten Sinn macht: Wir entstauben meine DVD-Sammlung.

Lester Burnham (American Beauty) masturbating in the shower

Kapitel 1: Die gewohnte Welt

Die gewohnte Welt zeigt sich in ihren eintönigsten Facetten. Sie fühlt sich irgendwie falsch an. Wir betrachten einen Protagonisten, der existiert, aber nicht lebt. Der sich in seinen Routinen sicher, aber auch verloren fühlt. Und wir erleben, wie seine Welt zunehmend an Reiz, Freude und Glanz verliert.

Look at me, jerking off in the shower … This will be the
high point of my day. It’s all downhill from here.

Lester Burnham, American Beauty, 1999

Durch die gewohnte Welt lernen wir den Protagonisten in seiner menschlichsten Form kennen. Er ist Opfer seiner Umstände, die er oft auch noch selbst geschaffen hat. Unser Held hat noch nichts Heldenhaftes an sich. Im Gegenteil: Er ist einfach nur Mensch, der die Gelegenheit schon mehrfach verpasst hat, seiner Bestimmung zu folgen.

American Beauty: Lester Burnham erlebt in einer amerikanischen Vorstadt früh morgens bereits den Höhepunkt seines Tages – unter der Dusche. Krieg der Sterne – a new Beginning: Ein junger Luke Skywalker träumt vom großen Abenteuer – der Wüstenplanet Tatooine dient gestalterisch als Symbol für die Leere, die der Protagonist verspürt. The Matrix: Thomas Anderson (aka Neo) arbeitet als Programmierer in einem beengten und grauen Großraumbüro. Sein Körper wirkt deutlich zu groß für die Box, in der er arbeitet. Der Zauberer von Oz: Dorothy singt vom Regenbogen. Ihre gewohnte Welt in Kansas ist in Sepia-Tönen gehalten.

Zeichnung Heldenreise Heros Journey

Kapitel 2: Der Ruf des Abenteuers

Der Ruf des Abenteuers kommt plötzlich und unerwartet. Und für einen kurzen Moment reißt er den Protagonisten aus seinem gewohnten Leben. Etwas bedroht seine Familie, der Friede einer Gemeinschaft gerät ins Wanken, sein Weltbild wird in Frage gestellt. Der Held wird mit seiner Bestimmung konfrontiert, nach der er sich insgeheim schon lange sehnt: Eine bedeutungsvolle Rolle in dem großen Stück, das sich Leben nennt.

Mrs. Robinson, you´re trying to seduce me ...
aren´t you!

Benjamin Braddock, The Graduate, 1967

Der Ruf des Abenteuers hat in Film wie Literatur viele Formen; Ein Anruf, ein dramatisches Ereignis, eine scheinbar zufällige Begegnung. Manchmal erfolgt er sogar in mehreren Stufen, denn manche Protagonisten verweigern gleich mehrfach. Der Ruf ist sein erster Berührungspunkt mit einer aufregenden, unbekannten Welt. Durch die Augen unseres Helden erhaschen wir einen ersten Blick auf das, was unweigerlich noch folgen wird: Ein Abenteuer, das in diesem Moment seine Sehnsucht, aber auch seine stärksten Zweifel weckt.

Die Reifeprüfung: Mrs. Robinson bittet Ben, sie nach Hause zu fahren, wo sie versucht ihn zu verführen. The Matrix: Neo erhält eine mysteriöse Nachricht auf seinem Computer-Bildschirm: „Follow the white Rabbit.“ Pretty Woman: Der reiche Geschäftsmann Edward hält mit seinem Lotus im Rotlichtbezirk und lässt die Scheibe herunter. Es folgt das erste Gespräch mit Vivian, einer Prostituierten. Der Herr der Ringe: Die Gefährten: Frodo berührt den Ring der Macht und wird in einer Vision mit der größten Bedrohung für die friedliche Welt konfrontiert, dem brennenden Auge Saurons. Star Wars – a new Beginning: Der Droide R2D2 spielt eine holografische Nachricht von Prinzessin Leah ab, die den Jedi Obi Wan um Hilfe bittet.

Pursuit of Happiness. Basketball am Rooftop

Kapitel 3: Die Verweigerung

Unser Protagonist weigert sich. Mal sind es andere, die ihn von der Reise abhalten – Torwächter, die er erst überwinden muss. Mal sind es innere Zweifel oder Ängste: Er traut sich den Schritt einfach nicht zu. Was immer es ist, die gewohnte Welt erscheint ihm plötzlich bunter, als sie es gerade noch war. Er findet Vorwände, die Reise nicht anzugehen. Schließlich möchte er das Leben, das er führt, nicht aufs Spiel setzen.

Don´t ever let anybody tell you, you can´t do something!
Not even me.
You got a dream, you gotta protect it!

Chris Gardiner, Pursuit of Happiness, 2006

Die Verweigerung dient der Charakterzeichnung unseres Protagonisten. Er ist eben nicht der strahlende Held, sondern immer noch ein ganz normaler Mensch mit Ängsten und Schwächen. Wir sympathisieren mit ihm, seine Zweifel können wir nachfühlen. Denn sind wir uns einmal ehrlich: Auch wir ziehen die Routine dem Abenteuer oft vor. Sie verschafft uns ein Gefühl von Halt und Sicherheit.

The Pursuit of Happiness: Der erfolglose Vertreter Chris spielt mit seinem Sohn Basketball auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses. Als dieser laut davon träumt, einmal in der NBA zu spielen, erwidert Chris, er solle sich lieber etwas suchen, das er wirklich gut kann. An der enttäuschten Miene erkennt der Vater schließlich, was er eben getan hat. Und spricht unter Tränen den obigen Monolog, der die Message des Films verdichtet. Star Wars – a new Beginning: Luke sträubt sich gegen das Abenteuer; Er könne Tante Beru und Onkel Owen nicht im Stich lassen. Rocky: Der abgehalfterte Boxer verweigert die Gelegenheit zu Ruhm und Größe mit den schlichten Worten: Danke, aber nein danke.

Heros Journey Heldenreise Mr. Myagi Karate Kid

Kapitel 4: Der Mentor

Der Protagonist begegnet einem Mentor, der auf seiner Reise eine tragende Rolle einnehmen wird. Der Mentor kennt die Tücken der unbekannten Welt und erkennt das Potenzial unseres Protagonisten. Akribisch bereitet er ihn auf lauernde Gefahren und Hindernisse vor – mal mit Wissen, mal mit Training, mal mit dem magischen Schwert. Unser Held bekommt das wohl machtvollste Rüstzeug mit auf die Reise: Die Zuversicht, der Aufgabe auch wirklich gewachsen zu sein.

First learn stand, then learn fly.
Nature rule, Daniel-san, not mine.

Mr. Myagi, Karate Kid, 1984

Der Mentor erklärt die unbekannte Welt nicht nur unserem Helden, sondern auch uns. Im übertragenden Sinne, zeigt er uns den Drachen und erklärt, wie er erschlagen werden kann. Oft begleitet er den Protagonisten über die gesamte Reise hinweg – oder taucht zur rechten Zeit am rechten Ort wieder auf, um ihn auf den richtigen Pfad zurückzulenken.

Karate Kid: Mr. Myagi eröffnet Daniel nicht nur die Kunst des Karate, sondern auch sein tief philosophisches Wissen über ein Leben in Balance. Star Wars – a new Beginning: Der Einsiedler Ben Kenobi unterweist Luke in der Macht, eine magische Kraft, die allen Elementen innewohnt. Er gibt ihm die Waffe seines Vaters, ein Lichtschwert. Star Wars – the Empire strikes Back: Luke sucht auf Dagobah Meister Yoda auf, einen Großmeister der Yedi. Yoda warnt Luke vor den Verführungen durch die dunkle Seite der Macht und stellt ihn vor Prüfungen, an denen er mehrfach scheitert. Pretty Woman: Der Hotelmanager unterweist Vivian, wie sie sich in der Noblesse bewegen, kleiden, sprechen und sogar speisen soll, um sich einzufügen. The Matrix: Morpheus gibt Neo die Wahl zwischen einer roten und einer blauen Pille. Anders formuliert: Zwischen dem Weg voraus – mit all seinen Konsequenzen – und der Möglichkeit umzukehren.

Pretty Woman Heros Journey The first Treshold

Kapitel 5: Die erste Schwelle

Mit neuem Mut wagt unser Protagonist den Schritt ins Unbekannte und betritt eine für ihn wunderliche Welt. Von hier an gibt es keinen Weg zurück – zumindest noch nicht. Die erste Schwelle in Film und Literatur wird häufig durch ein Symbol oder Gegenstand verkörpert: ein Fahrzeug, eine Tür, manchmal ein magischer Spiegel.

Vivian: Well, color me happy! There’s a sofa in here for two!
[A chagrined Edward turns to the couple.]
Edward: First time in an elevator.
Woman: Ah.

Pretty Woman, 1990

Die erste Schwelle führt nahtlos in die Haupthandlung der Geschichte über. Mit ihr beginnt der zweite Akt unserer Reise und wir betreten die unbekannte Welt, die sich wie eine Antithese zur gewohnten anfühlt. Erschien die Welt unseres Helden eben noch grau und eintönig, ist seine neue Umgebung leuchtend und farbenfroh. War sie ereignislos und simpel gestrickt, ist sie nun aufregend und komplex. Unser Held ist fasziniert und verängstigt zugleich. Und sind Film oder Literatur gut, sind wir es auch.

Pretty Woman: Ein Fahrstuhl bringt Vivian von der Lobby in das Penthouse von Edward, dem Geschäftsmann. Der Fahrstuhl dient als Symbol für den gesellschaftlichen Aufstieg. Harry Potter: In den meisten Teilen wird die Schwelle zwischen gewohnter und spezieller Welt durch den Hogwarts Express symbolisiert – ein Zug, der vom magisch versteckten Bahnsteig 9 3/4 abfährt. Matrix: Die Schwelle ist eine Wand aus einer wabbelnden, unbestimmten Masse, in der sich das Licht des Raumes biegt und bricht. Neo taucht seine Hand ein und wird von ihr verschluckt. Hat jemand „magischer Spiegel“ gesagt? Alice in Wonderland: Alice folgt einem verrückten Hasen, in den Hasenbau. Ab da steht die Welt Kopf. Wizard of Oz: Die Yellow Brick Road ist nicht nur ein farblicher Kontrast zum Sepia von Kansas, sondern dient auch als Symbol für Dorothys erste Schritte auf ihrer Reise in die unbekannte Welt.

Wizard of Oz Heldenreise Heroes Journey Companions Allies

Kapitel 6: Proben, Verbündete, Feinde

Es folgen die ersten Gehversuche unseres Protagonisten. Zunächst noch recht unbeholfen, tastet er sich dahin. Irrtum und Missgeschick lassen nicht lange auf sich warten und sorgen in Film und Literatur für erste humorvolle, manchmal sogar absurde Situationen. Die Geschichte führt nach und nach weitere Figuren ein. Die Welt teilt sich in Gut, Böse und irgendwas dazwischen. Damit ist der Gestaltwandler gemeint, der uns über seine Motive im Dunklen lässt und später für dramatische Wendungen sorgt.

Dorothy: How can you talk if you haven´t got a brain?
Scarecrow [smiling]: I don´t know. But some people without brains
do an awful lot of talking. Don´t they?

Wizard of Oz, 1938

Die neue Welt konfrontiert den Helden mit neuen Regeln, ersten Herausforderungen und stellt uns zugleich ihre Bewohner vor. Wir erfahren mehr über die Bestimmung unseres Protagonisten, der er sich nicht mehr entziehen kann. Erste Sidekicks werden etabliert. Meist von der liebenswerten, komischen oder gar schrillen Sorte, erhellen und erleichtern sie die Reise unseres Helden. Manche machen sie auch komplizierter. Echte Freunde eben.

Wizard of Oz: Dorothy begegnet der dümmlichen aber überraschend weisen Vogelscheuche, dem gehässigen aber feigen Löwen und dem herzlosen wie scharfsinnigen Dosenmann. Matrix: Nach dem Aufwachen findet sich Neo auf der Nebuchadnezzar wieder. Er trifft andere befreite Menschen und erfährt von Zion, die letzte Bastion der Menschen gegen die Maschinen. Mit an Bord ist der zwielichtige Cypher, der sich später als Gestaltwandler (Shapeshifter) bzw. Verräter entpuppt. Harry Potter und der Stein der Weisen: Im Zug lernt Harry seine neuen Freunde Hermine und Ron kennen. In Hogwards wird Malfoy mit seinen ersten drei Textzeilen zum Widerling stilisiert. Professor Snape scheint erst böse, wechselt aber im Verlauf der Filme immer wieder seine Gestalt und macht es uns schwer, ihn richtig einzuordnen.

 

To be continued

Literaturempfehlungen:
The Writer´s Journey, Mythic Structure for Writers, Christopher Vogler
Memo from the Story Dept.: Secrets of Structure and Character, Christopher Vogler
Der Heros in tausend Gestalten, Joseph Campbell

Ausgewählte Links:
Die Heldenreise in Der Pate, Shmoop
Die Heldenreise in Memento, Shmoop
Excepts from Myth and the Movies, Stuart Voytilla (.pdf)


Maria Savko Portrait

Maria Savko
Illustration